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Enteignet  Bertelsmann

PUBLIC  EDUCATION  IS  NOT  FOR  SALE

Rolf Jüngermann

(Der Artikel ist erschienen in: Marxistische Blätter 3-06, S. 64 – 70)

Kennen Sie MOMO? Den Märchen-Roman von den Grauen Herren, den Zeit-Dieben? „Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach.“ (Michael ENDE, MOMO, S. 59)

Die Grauen Herren von heute haben eine ihrer Zentralen in Gütersloh. Ihr Elite-Netzwerk zum Zwecke der Privatisierung der politischen Entscheidungsfindung unterliegt keiner demokratischen Kontrolle. Rechenschaftpflichtig sind sie letztendlich nur der kleinen Minderheit von Kapitaleignern, die sie finanzieren. Sie verstehen sich als führender deutscher Think Tank für den Umbau von Staat und Gesellschaft. Sie wurden nicht gewählt, sondern ausgewählt. Sie haben kein Mandat sondern Aufträge. Und einer davon lautet: Das Terrain sondieren und aufbereiten für eine Privatisierung des deutschen Schulwesens. Was denn sonst außer „Shareholder Value“ kann in diesen Zeiten einen gigantischen Internationalen Konzern dazu bewegen, die Manpower von knapp 300 Mitarbeitern, jährlich 70 Millionen Euro  (2004) in „operative Stiftungen mit der größtmöglichen Hebelwirkung“ (O.ton Bertelsmann) zu investieren.

Mit gesteigerten Profiten aus dem Verkauf von Büchern, von Medien des „distance learning“, wird man sich nicht zufrieden geben können. Auch nicht mit Steuervorteilen allein. An die „Staatsknete“ muss man heran, sollen sich diese Investitionen irgendwann wirklich auszahlen. „Running school“ - so könnte es gehen. Schrittweise Privatisierung rentabel organisierbarer Teile des Schulwesens bei fortgesetzter Finanzierung durch den Staat. 

Seit einigen Jahren nun sind wir Zeugen, wie der Prozess der Privatisierung des Schulwesens vorsichtig aber zielstrebig und entschlossen auf den Weg gebracht wird. Von der Vollendung sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Wie er im einzelnen ablaufen wird und wohin er konkret führen wird, ist nicht genau abzusehen, liegt wohl auch noch nicht fest, hängt entscheidend mit davon ab, wie die Betroffenen sich politisch dazu verhalten.

Radikale Uminterpretation der Verfassung
Das Vorgehen hat Methode. Von langer Hand  und auf  lange Sicht.  Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zum Beispiel sind – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - schon vor Jahren geschaffen worden. Mit den Grauen Herren aus Gütersloh begegnet uns in der Schulpolitik die konkrete praktische Umsetzung der radikalen verfassungsrechtlichen Neuinterpretation von Artikel 14 unseres Grundgesetzes („Eigentum verpflichtet. . . . „) im Sinne von Neoliberalismus, Weltbank, WTO und GATS.  Vorgenommen von Staatsrechtlern unter der Ägide von Hans-Jügen Papier und aufgenommen in den hochrenommierten und offiziösen Grundgesetzkommentar von MAUNZ/DÜRIG in Form von ca. 600 Randnoten schon vor vielen Jahren. Die neuen Kommentatoren haben eine wahrhaft gründliche Umorientierung vorgenommen, „ . . . mit dem Ergebnis, daß die Sozialpflichtigkeit geradezu einen Anspruch des Kapitals auf Einmischung in die Politik beinhalte, und zwar in dem Maße wachsend, in dem das Kapital konzentriert und mächtig auftritt. Das Gewicht des jeweiligen Kapitals gilt überhaupt nicht mehr als Gefahr für die Demokratie, sondern umgekehrt, die Demokratie wird als Gefahr für die Freiheit des agierenden Kapitals verstanden und deshalb - zu seinem Schutz - das Kapital geradezu verpflichtet, mit welchen Mitteln auch immer, als Teil der gesellschaftlichen Gewalten aufzutreten.“(1)  „Papier betont, dass diese Einmischung nicht einmal das Gemeinwohl im Auge zu haben brauche . . . . Vielmehr beinhalte die Sozialpflichtigkeit des Eigentums gerade eine Einmischung mit privatnütziger Zielsetzung. Eine rein auf den Volkswillen gestützte Demokratie lehnt Papier entschieden ab. Das Grundgesetz kenne gemäß Artikel 14 ´keine Totalität des demokratisch legitimierten Hoheitsaktes, keine potentiell absolute Herrschaft der politischen Demokratie über Gesellschaft und Wirtschaft´.“(2)  Hans-Jürgen Papier ist inzwischen Richter am Bundesverfassungsgericht und Vorsitzender von dessen Erstem Senat.

Dieser Logik folgend wird die Unterwerfung auch der Schulen unter den “betriebswirtschaftlichen Imperialismus” (NEGT) inzwischen mit Macht betrieben. Ins Haus steht zum Beispiel das in vielen Bundesländern bereits in Gang gesetzte Bertelsmann-Projekt der ´Selbständigen Schule´, das langfristig angelegt ist auf die Ökonomisierung der (betriebswirtschaftlich) autonomen Einzelschulen, die dazu gebracht werden sollen, marktgängig zu werden und miteinander um kaufkräftige  Nachfrage zu konkurrieren - bis es dann heißt: Egal, was du lehrst, egal was du lernst, es ist immer Betriebswirtschaft. Um die anderen, um die „Schwarzen Schulen“(3) , um die nicht profitablen Teile des Schulwesens mag sich dann kümmern wer will. 

Die destruktiven staatlichen Kürzungsreformen im Bildungswesen und die unzureichend entwickelte öffentliche Diskussion und Mobilisierung für ein humanistisches Gegenkonzept erleichtern den Liberalisierern die Umwertung aller Werte. Es ist ihnen gelungen, ihre Ziele mit common-sense-Begriffen wie Effektivität, Rechenschaftspflicht, Qualitätssicherung, Autonomie, Neue Lernkultur . . . zu maskieren und im Schafspelz der Begriffswelt der Reformpädagogik ihren Einflussbereich beträchtlich zu erweitern. Eine solche Innovationslyrik  fällt angesichts des gewaltigen Reformstaus in der Schulpolitik bei nicht wenigen Betroffenen auf fruchtbaren Boden, weil sie der politischen Klasse nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wirkliche Problemlösung nicht mehr zutrauen.

So können sie – bisher leider weitgehend unwidersprochen - die erkennbar als ´class strategy´ (BALL)(4) angelegte ´Freiheit´ von Schulen, sich ihre Schüler auszuwählen, in eine angebliche Wahlfreiheit der Eltern und Schüler umdefinieren, können die vorgesehene Entrechtung, Gängelung und Drangsalierung des pädagogischen Personals ebenso unwidersprochen unter dem Begriff ´Selbstständige Schule´ andienen.

Derlei Mimikry, verbunden mit professioneller Lobby- und Öffentlichkeitsarbeitsarbeit, mit Spenden und Stiftungsgeldern, gepaart mit massivem Druck seitens New Labour(D) und OlivGrün, hilft mit, potenziell ablehnende Entscheidungsträger und –gremien zu lähmen oder zu überzeugen.

Diese Stiftung stiftet gar nichts
Bertelsmann  ist dabei mit besonderer Chuzpe vorgegangen. Um an staatliche Gelder heran zu kommen und aus Imagegründen hat Herr Mohn kurzerhand den größten Teil seiner Marketingabteilung in eine Stiftung - mit an die 300 Hauptamtlichen - umfirmiert. Allerdings in eine “Operative Stiftung”. Das bedeutet: Diese Stiftung stiftet gar nichts: “Als operative Einrichtung investiert die Bertelsmann Stiftung ihr Budget ausschließlich in Projekte, die sie selbst konzipiert, initiiert und auch in der Umsetzung begleitet. Ihrer Satzung gemäß vergibt die Bertelsmann Stiftung keine Stipendien, Geld- oder Sachspenden.”  (O.ton Bertelsmann Stiftung (5) )

Auf diese Weise hat Bertelsmann neben dem finanziellen und Imagevorteil  auch gleich den gesicherten alleinigen Zugriff auf die Auswahl und Planung aller  Projekte, Studien und Forschungen, auf das eingesetzte Personal und auf das Verfahren. Und auf die Ergebnisse gleich mit - jedenfalls auf deren Veröffentlichung, was politisch auf das Gleiche hinausläuft. Als immerhin größte europäische Stiftung, „deren Gutachter in allen bedeutsamen sozial-, bildungs- und sicherheitspolitischen Gremien Europas sitzen“,  die die Hochschul-, Gesundheits-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der  Schröder-Regierung „entscheidend bestimmt hat“(6)  , „übt die Stiftung einen immensen Einfluß aus und behält dabei stets den Profit des Unternehmens im Auge, aus dem sie hervorgegangen ist.“(7)

Aber die Bertelsmann Stiftung -  mit ihrem Selbstverständnis als „führender deutscher ThinkTank für den Umbau von Staat und Gesellschaft“ (und als heimliche Theorieschmiede der bürgerlichen Parteien) - beschränkt sich inzwischen schon längst nicht mehr  auf diese Art von Marketingtätigkeit im engeren Sinne. Mit dem  in NRW und in den meisten anderen Bundesländern in Gang gesetzten Projekt ´Selbstständige Schule´  im Rahmen der Konzeption einer  politischen Public Private Partnership zwischen den Schulministerien und Bertelsmann greift man viel weiter, hat die Bresche geöffnet für den direkten Zugriff auf die Schulen. Mag das Interesse der beteiligten Ministerien bei diesem Projekt in erster Linie beim  bildungspolitischen Aspekt liegen, so geht es Bertelsmann -  neben dem inhaltlichen und organisatorischen Zugriff auf das Schulwesen - um Ökonomie, um Profit.

Es handelt sich bei dieser PPP durchaus nicht um  räumlich und zeitlich begrenzte mehr oder weniger freiwillige Vereinbarungen, sondern um ein zwingendes Ergebnis von EU-Vorgaben. Die Landesregierungen können sich derartigen ´Angeboten´ von Bertelsmann und anderen Konzernen nur noch schwer entziehen, selbst wenn sie wollten. Denn die EU hat bereits grundsätzlich akzeptiert, ihre Märkte für PPP in den Bereichen Grundschulbildung, Schulbildung, Hochschulbildung und Erwachsenenbildung zu öffnen. Das aber bedeutet, dass mit der ´Selbstständigen Schule´ die schrittweise Privatisierung unseres Schulwesens begonnen hat - nach den auf lange Zeiträume und Unwiderrufbarkeit angelegten Vorgaben von GATS und nicht als bildungspolitischer Großversuch oder als Hobby von Herrn Mohn.

Akzeptanzprobleme
Noch müssen die Grauen Herren gewisse Akzeptanzprobleme berücksichtigen. Das zeigte sich zum Beispiel vor einigen Jahren in den heftigen ablehnenden Reaktionen vor allem aus den Gewerkschaften auf neoliberale Vorschläge zur Bildungsfinanzierung, in der großen Demonstration der GEW NRW vom 30.10.2001 in Düsseldorf,  in den Protesten der streikenden Studierenden der Bauhaus Universität Weimar und den Studierenden der GEW Thüringen vor der Bertelsmann Club Filiale in Weimar am 15.12.2003 (8)  sowie in der Besetzung des Bertelsmannhauses in Berlin-Mitte Unter den Linden gegenüber der HU durch protestierende Studenten am 12.12.2003 mit der Begründung: „Das Problem mit dem CHE liegt somit in der strukturellen Einbindung in das 'Unternehmen Bertelsmann Stiftung'. Wir beobachten hier eine Zurückdrängung öffentlicher oder gar demokratischer Kontrollen, weil das CHE Hochschulpolitik betreibt und dabei werden öffentliche Funktionen auf privates Kapital übertragen. Dass Konzerninteressen nicht mit dem gesellschaftlichen Interesse an einer unabhängigen Bildung vereinbar sind, ist allgemein bekannt.“(9)

Die Ölfleckmethode
Daher verfahren die Grauen Herren bisher durchaus erfolgreich nach der Methode: Nichts überstürzen, freundlich, geduldig und bescheiden auftreten, kluge Vorschläge machen, hie und da ein übersichtliches, sicher beherrschbares Projekt - wie zum Beispiel „Schule & Co“ in NRW (10) - organisieren und damit demonstrieren, man könne es eben doch besser als der Staat, Verbindungen knüpfen und festigen, mögliche Verbündete aufspüren, überzeugen und für sich gewinnen, Gegner identifizieren,  ihre Argumente, ihre Schwächen studieren. Die Ölfleckmethode. Einsickern, nicht aufdrängen. Public Private Partnership über eine „vielfältig verflochtene Akteurskonstellation“(11)  aus Bertelsmann-CHE / Stifterverband (Klaus KLEMM, Jürgen LÜTHJE),  Regierungsapparat,  SPD  und Grünen (VOLKHOLZ),  Teilen von  GEW (über den langjährigen Vorsitzenden Dieter WUNDER)  und DGB (Hans-Böckler-Stiftung / Dieter WUNDER) hat zu teilweise wirklich erstaunlichen „Erfolgen“ geführt: In den konkreten Vorschlägen zur Ersetzung der staatlich garantierten individuellen Kostenfreiheit im Schulbereich zu Gunsten eines privaten Beitragsmodells „am weitesten geht dabei seltsamerweise der Sachverständigenrat der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung. Ihm folgend würde die individuelle Kostenfreiheit schon ab Sekundarstufe II , das heißt für die gymnasiale Oberstufe, aufgehoben und durch eine zehnprozentige Eigenbeteiligung ergänzt.“(12)

Ein denkbarer nächster Schritt: An ausgesuchten Schulen werden Schulmanager eingesetzt. Und der Konzern übernimmt einen Teil der Kosten. Als großherzige Spende sozusagen. „Hochbezahltes Pädagogisches Personal ist doch für diese Aufgaben viel zu schade.“ (O.ton Bertelsmann) Und schon hat man den Zugriff auf die Schulfinanzen, zum Beispiel auf die Beschaffung von Lehr- und Lernmitteln aller Art, eben auf die begehrte „Staatsknete“. (Die relative Autonomie der Schulbuchverlage steht damit so ganz nebenbei ebenfalls zur Disposition.) Als Vorbild eignet sich Großbritannien, wo eine komplexe Privatisierungstypologie im Bildungswesen längst eingeführt ist, u.a. als sogenanntes „Privates Management öffentlicher Schulen: Hierunter ist die Auslagerung des Schulmanagements an privatwirtschaftliche Unternehmen zu verstehen. Einen Sonderstatus nehmen in diesem Kontext die sog. „Academies“ ein, die zu 80% aus staatlichen Mitteln finanziert werden, jedoch einen privatrechtlichen Status besitzen und somit privat geleitetet werden. Academies sind als privatrechtliche Institutionen nicht verpflichtet, gewerkschaftliche Organisierung der LehrerInnen anzuerkennen!“(13)

Wenn aber die Grauen Herren aus Gütersloh - und anderswo, Disneyland z.B. - erst einmal fest im Sattel  sitzen, wenn „fast education“ und geistige „coca-colanization“ um sich greifen, wenn die Mitbestimmungsrechte unwiderruflich abgebaut sind, wenn der Anteil des pädagogischen Personals mit prekären Arbeitsverträgen, denen die Rolle leicht erpressbarer pädagogischer Handlanger zugedacht ist, weiter zunimmt, wenn die planmäßig herbeigeführte Finanznot immer drängender wird, dann könnten im Ergebnis von Privatisierungsschritten ganz andere Managementmethoden Platz greifen, denen gegenüber die staatliche Immobilität und  Gängelung, die von vielen  heute beklagt wird, wie ein schöner Traum aus alter Zeit erscheinen. Ein Zurück wird es dann nicht mehr geben. Dafür sorgen die GATS-Regeln, die über dem Landesrecht stehen.

Ein gescheitertes Modell
Dabei klingt das, was da in forscher und selbstsicherer Attitude als ´Moderne Bildungspolitik´ daher kommt, bei genauerem Hinhören ausgesprochen blechern und hohl und steht konzeptionell auf tönernen Füßen. Es weist innere Widersprüche in zentralen Feldern auf, vestößt massiv gegen die berechtigten Interessen der ganz überwiegenden Mehrheit der Betroffenen und ist nach wissenschaftlichen Kriterien und nach den praktischen Erfahrungen in vielen anderen Ländern längst als gescheitert zu betrachten. Entsprechende Wortmeldungen sind Legion und zusammenfassend stellt WEISS (2002) in der behutsamen Sprache des unbestrittenen Experten fest: „Die von der internationalen Bildungsforschung vermittelten Einsichten in Funktionsweise und Wirkungen von Quasi-Märkten im Schulbereich legen die These nahe, dass die Funktionalisierung von Wettbewerb und Dezentralisierung für die Erreichung von Effizienzzielen in diesem Bereich bislang nirgendwo überzeugend gelungen ist.“(14)  Marktmodelle, Wettbewerbsmodelle mit regelmäßigen Elektroschocks sind eben doch nicht die adäquate Organisationsform des Schulwesens. Was im Kern übrig bleibt von dieser Spielart der selbsternannten ´Modernen Bildungspolitik´, ist ausgesprochen kümmerlich: Marketing für die Interessen von kommerziellen Organisationen und Gesellschaften, die endlich an der Lieferung von ´Bildungsdienstleistungen´  teilnehmen und davon profitieren wollen.

„Emanzipation, Demokratisierung, Bürgerrecht auf  Bildung für alle, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit . . . „ - wortgewandte Konzernvertreter , ob direkt oder auf Umwegen in die Arbeit der Bertelsmann Stiftung eingebunden, artikulieren sich vor der Öffentlichkeit auf Konferenzen und Tagungen gerne im Rahmen dieser Euphemismen. Aber in der Kluft zwischen Sein und Schein, zwischen dem was gesagt wird und dem was real angestrebt wird, liegt der immanente Konflikt, woran die Privatisierung letztendlich scheitern könnte, so geschickt sie auch eingestielt wird.

Augen zu, Ohren zu und durch – Das Bayerische Modell
Im konservativen Lager scheint man das Scheitern dieses bisher bevorzugten eher ´soften´ Ansatzes einer Bildungsreform im Sinne des Kapitals bereits zu ahnen. Ein Beleg dafür ist das Gutachten „Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt.“(15), das die Basler prognos AG unter der Gesamtredaktion des Präsidenten der FU Berlin, Dieter LENZEN, für die „Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.“ in 2003 und 2004 vorgelegt hat. Dort zeichnet sich ab, dass man durchaus vorhat, in Zukunft lieber nach der Maxime zu verfahren: ´Und bist du nicht willig dann brauch´ ich Gewalt.´ Man bekennt sich in dem Gutachten ausdrücklich und programmatisch zu einer „Ökonomisierung der Bildung“ und zu einem in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, ja in der europäischen Geschichte bisher unbekannte(n) Spektrum pädagogischer Pflichtinstrumente – gesetzlich vorgeschriebener Beratung, Diagnose, Lenkung und Kontrolle.“(16)  

„Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und die sie beratenden pädagogischen Experten setzen nicht mehr auf die persönlichkeitsbildenden Wirkungen der traditionellen Formen von Religion, und sie scheinen auch nicht darauf zu vertrauen, daß der Markt wie von selbst die „neuen Menschen“ und die Verteilung ihrer Ressourcen auf die regionale Wirtschaft erbringen wird, sondern sie setzen auf „Bildung, neu gedacht“ – und das heißt: auf eine quasi „totalisierte Pädagogik“, für deren Durchsetzung – erstaunlicherweise – der ja sonst „verschlankte“ Staat durch Gesetze sorgen soll! Die Pädagogik und ihr Personal sollen sich nicht mehr nur als Anwalt des Kindes oder der Jugend verstehen und auf die Institutionen für diese Lebensphase beschränken. Die totalisierte Pädagogik ist ein System von gesetzlichen Verpflichtungen und professionalisierter Begleitung in einem – nur scheinbar – individualisierten Lebenslauf.“(17)

Einige Beispiele aus einer großen Zahl von vorgeschlagenen Maßnahmen mögen die Reichweite der angedachten Maßnahmen andeuten:  (18)

Generell geht das Gutachten von einer „(Selbst-)Bildungspflicht jedes Gesellschaftsmitglieds“ aus (S. 100).

    ● – Es sieht Maßnahmen vor zur Definition und Durchsetzung der „Wahrnehmung von Elternpflichten sowohl gesetzlich als auch im Sinne der Kommunikation einer elterlichen Verantwortungskultur im politischen Raum“ (S. 149), u.a. eine staatlich verordnete verbindliche Verpflichtung der Eltern, sich zur Bildungsbiographie ihrer Kinder beraten zu lassen (S. 329). Darüber hinaus wird gefordert: „Für Eltern werden Qualifizierungsmaßnahmen vorgehalten, die es ihnen erlauben, ihren Kindern erziehend, beratend und lehrend zur Seite zu stehen“ (S. 119).

    ● – Das Gutachten schlägt die „gesetzliche Einführung einer obligatorischen Anamnese und Diagnostik vor Schuleintritt, am Ende der Grundschulzeit und am Ende der Sekundarstufe I unter Einbeziehung der Pädiatrie im Rahmen der regelmäßigen gesetzlichen Früherkennungsuntersuchungen“ vor (S. 150f.).

    ● – Es empfiehlt die „Anlage eines Bildungs-Scheckhefts bei Eintritt in das Schulwesen (primärer Bereich)“ (S. 269);

    ● – sowie die Einführung von „Regelungen für die Entscheidungen über die Verläufe von Lernbiographien, d.h. eine Beratung bei Übergängen während der Schul- und Ausbildungszeit im ersten bis dritten Bildungsbereich“ (ebd.) und „stärkere Entscheidungsrechte der jeweils aufnehmenden Schulen“ (S. 156).

Empfohlen wird darüber hinaus:

    ● – die „Einführung eines Dokumentationssystems für die individuelle Bildungsbiographie der Bürger“ (S. 271),

    ● – die „Einrichtung eines obligatorischen (!) Systems der Bildungsbiographieberatung in Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Arbeitsämtern und Betrieben“ (S. 332), „orientiert an regionalen Bedarfslagen“ (S. 119); ein „obligatorisches Beratungsgespräch nach einem Jahr Berufstätigkeit: Erstellung eines Kompetenz- und Qualitätsprofils durch Leitfadeninterview mit Analyse der berufliche Ziele, der familialen Rahmenbedingungen, der Motivationslage, der erworbenen Kompetenzen durch unabhängige Berater“ (S. 269);

    ● – die „Abstimmung des individuellen Kompetenzprofils mit Arbeitsplatzangebot und -bedarfslage in der Region“ (ebd.); sowie

    ● – eine „gesetzliche Regelung einer Mindestqualifikationspflicht für Zuwanderer sowie Langzeitarbeitslose und Lernschwache“ (S. 267);

    ● – eine „Mindestqualifizierungspflicht für jeden Bürger unabhängig von seiner Herkunft“ (S. 328);

    ● – ein „ziviles Pflichtjahr für alle Frauen und Männer“ an der Stelle des heutigen Zivildienstes und Militärdienstes, der durch eine Berufsarmee ersetzt werden soll (S. 198);

    ● – die „Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme einer Weiterbildungspflicht in Arbeitsverträge und arbeitsrechtliche Regelungen“ (S. 267);

    ● – die Einführung einer obligatorischen berufsbegleitenden Weiterbildung (S. 198);

    ● – die „Einführung einer Weiterbildungspflicht für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger mit dem Ziel der Wiederherstellung ihrer Erwerbsfähigkeit“ (S. 332);

    ● – die „Einrichtung eines Dokumentationssystems für Bildungsbiographien“ (S. 332). Genauer heißt es: „... für Individuen sind entweder bei Berufseintritt oder bei der Einführung eines Bildungsgutscheinsystems personenbezogene Datenbanken einzuführen, die in Analogie zur ‚Patientengeschichte‘ eine ‚Weiterbildungsgeschichte‘ speichern. Auf diese Weise entsteht eine durch den Menschen planbare Bildungsbiographie im mittleren Erwachsenenalter“ (S. 268).

Ergänzt werden diese Vorschläge durch

    ● – die Forderung nach der „Einführung einer grundsätzlichen Erwerbstätigkeitspflicht für beide Geschlechter – unterbrechbar, aber nicht ersetzbar durch Familientätigkeit zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs“ (S. 242);

    ● – die „ersatzlose Abschaffung einer Altersgrenze für Arbeit und Ausbildung“ (S. 304);

    ● – und schließlich durch das Postulat: „Der hohe Arbeitskräftebedarf muß in eine (begrenzte) Weiterarbeitsverpflichtung umgesetzt werden“ (S. 306).  

„Diese Empfehlungen der Kommission zeigen, daß die „neu gedachte“ Bildung, d.h. die „ökonomisierte Bildung“, mehr bedeutet als die Übernahme von Steuerungsregeln aus dem Unternehmensbereich im Bildungssystem, also den Abbau staatlicher Zuständigkeiten, Verwaltungen und Bildungsinstitutionen und ihre Ersetzung durch private Anbieter und die Dienste von Unternehmensberatungsgesellschaften und Agenturen aller Art. Die Ökonomisierung der Bildung bedeutet vor allem eine historisch neue Dimension des Umgangs mit der Zeit der Menschen, einen Zugriff auf die Tageszeit, die Jahreszeit, die Lebenszeit von der frühen Kindheit bis ins Alter. Diese Form der Ökonomisierung der Bildung wird von der Kommission programmatisch vertreten. Die Begriffe Verdichtung, Verfrühung und Verlängerung des Lernens sind Ausdruck dieser Strategie. Dieser Zugriff auf die Zeit der Menschen wird – zunächst – als neue moralische Verpflichtung an die Menschen herangetragen.“(19)

Und damit sind wir unversehens wieder bei Michael ENDE und bei MOMO angekommen – bis in die Wortwahl hinein. Tröstlich und ermutigend wirkt es, wenn man in Mußestunden noch einmal nachliest, wie es denn am Ende ausgegangen ist mit den Grauen Herren, die von nichts anderem lebten als von der den Menschen gestohlenen Zeit.

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Fundstelle:  www.bipomat.de

 

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Anmerkungen, Literatur

1)  Bennhold, Martin (1999): „Private Berater“ – Weichensteller im Dienste der Wirtschaft. Funktionen des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) und des Bertelsmann-Konzerns in der Hochschulstrukturdiskussion, in: Forum Wissenschaft 3/99,  S. 55 ; http://www.bdwi.de/forum/fw-99-3.pdf ,   Zugriff: März 2006

2)  ebd.

3)  Ein in den Niederlanden gebräuchlicher Begriff für Schulen, die mit besonders gravierenden Problemen konfrontiert sind.

4)  Ball, Stephen J. (2003): Urbane Auswahl und urbane Ängste: Zur Politik elterlicher Schulwahlmöglichkeiten, in: WIDERSPRÜCHE Heft 89, Sept. 2003,  59 – 74; Auszüge: http://www.bipomat.de/ball.pdf , Zugriff: März 2006

5)  Quelle: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-0A000F0A-140CBE0D/bst/hs.xsl/366.htm  Zugriff: März 2006

6)  Rötzer, Florian : Ohne Bertelsmann geht nichts mehr, Ein Gespräch mit Frank Böckelmann, TELEPOLIS 9.11.2004 , http://www.heise.de/bin/tp/issue/r4/download.cgi?artikelnr=18749&pfad=/tp/r4/artikel/18/18749

7)  Böckelmann, Frank & Fischler, Hersch : Bertelsmann. Hinter der Fassade des Medienimperiums. Frankfurt am Main 2004, Vorwort; http://www.heise.de/bin/tp/issue/r4/download.cgi?artikelnr=18748&pfad=/tp/r4/artikel/18/18748

8)  Bericht der GEW Thüringen: http://www.gew-lass.de/presse03_5.htm  Zugriff: März 2006

9)  Auszug aus der Pressemitteilung vom Aktionsrat der HU vom 12.12.03;  http://de.indymedia.org/2003/12/69772.shtml   Zugriff: März 2006

10)  Ein „Gemeinsames Projekt des Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung NRW und der Bertelsmann Stiftung zur Stärkung von Schulen im kommunalen und regionalen Umfeld im Kreis Herford und in der Stadt Leverkusen“,  dessen Vorläuferprojekt seit 1997 unter dem Namen ´Stärkung von Schulen im regionalen und kommunalen Umfeld´  lief und das im Juli 2002 mit einer zentralen Abschlussveranstaltung – natürlich erfolgreich – beendet wurde.    http://www.schule-und-co.de/

11)  Barth, Thomas & Schöller, Oliver: Der Lockruf der Stifter – Bertelsmann und die Privatisierung der Bildungspolitik, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik 11/05, S. 1133 – 1348; http://www.blaetter.de/artikel.php?pr=2183

12)  ebd.

13)  Dickhaus, Barbara & Dietz, Kristina (rls / weed 2004) : Öffentliche Dienstleistungen unter Privatisierungsdruck - Folgen von Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in Europa, S. 77;  http://linxxnet.de/aktuell/download/Studie_Privatisierung_EU-final_version.pdf ,   Zugriff: März 2006

14)  Manfred Weiß: Quasi-Märkte als Steuerungsregime im Schulbereich - Vortrag auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Sektion Bildung und Erziehung, am 11. Oktober 2002 in Leipzig;  http://www.soziologie.de/sektionen/b01/beitraege1.pdf , Zugriff: März 2006

15)  Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt. (Teil 3 von: Das juristische Konzept / Das Finanzkonzept / Das Zukunftsprojekt) Herausgeber: vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.; Gesamtredaktion: Prof. Dr. Dieter Lenzen, Freie Universität Berlin; Projektleitung: prognos AG, Basel. Opladen: Leske + Budrich 2003; http://www.bildunginbayern.de/jsp/49339.jsp;

16)  Zymek, Bernd (Initial – Berliner Debatte 03.02.2006)  Was bedeutet „Ökonomisierung der Bildung“? Analyse des Gutachtens der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft „Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt“ ; http://www.linksnet.de/artikel.php?id=2236

17)  ebd.

18)  zitiert nach Zymek a.a.O.

19)  ebd.

 

 

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